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Rede zum Volkstrauertag 2019

Rede von Oberstufenschülerinnen des 12. Jahrgangs zur städtischen Gedenkstunde des diesjährigen Volkstrauertages

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn wir ehrlich sind, präsentieren wir Ihnen heute nicht die Rede, die wir
eigentlich hätten halten wollen. In unserer vorherigen Rede wären wir auf
Fakten, Daten und all die typischen Aspekte eingegangen, die man von so
einer Rede erwarten würde. Der Text war schon ausgedruckt und fertig, doch
irgendetwas stimmte einfach nicht. Sollten nicht gerade wir, die junge
Generation, uns unser eigenes Bild machen dürfen und es den anderen
mitteilen? Denn wir hatten ehrlich gesagt ein kleines bisschen Angst, dass
unsere Rede nicht dem entsprechen würde, was man von uns erwartete.
Letztendlich haben wir aber doch den Mut gefunden, unsere Emotionen und
Gedanken mit Ihnen heute zu teilen.

Im Frühjahr haben wir die Gelegenheit bekommen, mit dem Bus nach Oswiecim
zu fahren und uns eine Woche lang mit der Geschichte des zweiten Weltkriegs
auseinander zu setzten. Oswiecim ist der Ort, in dem die
Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau lagen. Der Fokus wurde auf
Workshops und Besuche der ehemaligen Lager gelegt, wodurch wir neue
intensive Eindrücke erhielten. Und obwohl wir dort nur knapp 7 Tage
verbrachten, tragen wir immer noch die dort gespürten Gefühle in uns. Schon
auf dem Rückweg bemerkten wir, dass sich über diese kurze Zeit, ein neuer
Blickwinkel für uns eröffnet, eine Sensibilisierung stattgefunden hat. Es
hat uns erstaunt, wie viele Begriffe und Angewohnheiten uns in unserem
Alltag begegnen, die Andere ganz selbstverständlich ausschließen und ein
mulmiges Gefühl in uns auslösen.

Vor einigen Wochen unterhielt ich mich über das Attentat auf die Synagoge
in Halle. Die darauffolgende Bitte des Zentralrats der Juden war, dass die
Gotteshäuser an besonderen Feiertagen verstärkt geschützt werden sollten.
Daraufhin sagte mein Gesprächspartner, dass die Gemeinden jüdischen
Glaubens sich selbst schützen sollten. Bei diesen Worten breitete sich ein
Gefühl von Unbehagen und Widerstand in mir aus. Würde sich zu Weihnachten
jemand über einen besonderen Polizeischutz für die christlichen Kirchen
beschweren? Nein, er wird als selbstverständlich angesehen. Warum sollte
das bei Synagogen anders sein?

Sind wir früher solchen alltäglichen Situationen begegnet, haben wir nie
etwas gesagt, selbst wenn wir bereits zu diesem Zeitpunkt ahnten, dass
diese Art von Äußerungen Menschen ausgegrenzt und verletzt. Heute stehen
wir auf und suchen die Diskussion. Wir schrecken vor Begriffen wie
,,political correctness" und ,,Gutmensch" nicht mehr zurück. Denn Gewalt
beginnt mit Sprache und wir haben Angst, dass diese Gewalt irgendwann zu
einer kompletten Normalität wird und in die körperliche übergeht. Woher
kommt das Gefühl der Angst?

Ich glaube, dass ich dem Ursprung der Angst einen Schritt näher gekommen
bin. Spricht man mich heute auf das Thema Konzentrationslager an, taucht in
mir sofort das Bild der provisorischen Gaskammer in Auschwitz 1 auf. Dies
war die erste und einzige Gaskammer, die ich jemals besichtigt habe und
auch niemals vergessen werde. Ich stand nur für wenige Sekunden in diesem
kleinen, dunklen Raum, den so viele Menschen nicht lebend verlassen
durften, und hatte das Gefühl, als würde sich ein immenses Gewicht auf
meine Brust legen. Mir fiel es schwer zu atmen und ich wollte wieder ins
Freie. Wie kann es möglich sein, dass Taten aus der Vergangenheit so
grausam und erschlagend sein können, dass ich selbst heute an diesem Ort
ein so starkes Gefühl des Unwohlseins verspürt habe, obwohl die
Geschehnisse deutlich älter sind als meine Eltern oder Ich? Das Bewusstsein
der unbeschreiblichen Grausamkeit dieser Taten bringt mich heute dazu,
aufzustehen.

Auch wenn das vielleicht nicht für alle offensichtlich ist waren diese
,,Orte" für mich auch ein Ort der Hoffnung. In Bergen Belsen wurde von den
Briten, die das dortige Konzentrationslager befreiten, Erste Hilfe
geleistet. Die sah so aus, dass man mit nahrhafter Soldatennahrung die
ausehungerten Körper wieder aufbauen wollte. Doch die Körper waren nach so
langer Zeit mit so wenig Nahrung überfordert und starben an einem
Hirnschlag. Doch nach und nach verstanden die Briten, wo ihr Fehler gelegen
hatte und sie konnten die ehemaligen Häftlinge am Leben erhalten. Später
wurde die Priorität vom bloßen Überleben hin zum Finden eines eigenen
Lebenssinns verändert. Durch den langen Atem der Briten und ihre
Bereitschaft ihre Versuche der Hilfe immer wieder zu reformieren, konnten
doch noch viele Opfer auf einem Weg zurück ins Leben unterstützt werden.
Ich sehe diese Tat als ein Vorbild, sich nicht von einer zuerst
aussichtslos erscheinenden Situation entmutigen zu lassen und weiter alles
zu versuchen. Diese Hoffnung, die Leben gerettet hat, bringt mich heute
dazu aufzustehen.

Warum sprechen wir heute über die Gegenwart und die Zukunft, obwohl der
Volkstrauertag dazu dienen soll, an die Gefallenen aus den vergangen
Kriegen zu erinnern?
Wir tun dies, um aus den Fehlern der Vergangenheit, die ihnen das Leben
gekostet haben, zu lernen, sodass sich die Geschichte nicht wiederholt.
Sodass das Gedenken an die Gefallenen, eine Auswirkung auf unser Handeln
und damit auch auf unsere Zukunft hat.

Mit diesen Worten wollen wir nicht vorschreiben, wie man zu gedenken hat,
sondern dass jeder Mensch seine eigene Art zu erinnern finden muss. Wir
alle haben einen anderen, ganz eigenen Berührungspunkt mit den Gefallenen,
der unsere Art des Gedenkens definiert. Sei es ein verstorbenes
Familienmitglied, eine besonders starke geschichtliche Auseinandersetzung
mit dem Thema oder die Begegnung im Unterricht, der uns dazu bringt, zu
erinnern.
Die eine Person mag in der Gesellschaft, in Gemeinschaften nach einem
Gedenken suchen, dass beisammen stattfindet, die anderen bevorzugen ein
privates Gespräch zu zweit oder eine eigene, innerliche Auseinandersetzung
mit seinen Gedanken.

Möge niemand an unsere Gräber und die der nachwachsenden Generationen
Kränze niederlegen müssen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!